Home is the place you left
Sigmund Freud beschreibt in seinem Essay über „Das Unheimliche“ (1919) das Zuhause als einen zweischneidigen Ort, der sich schon im deutschen Wort „un-heimlich“ offenbart: Das Heimelige, dem wir entwachsen sind, erregt in uns Angst und Grauen, wenn wir ihm uns nähern. Was uns nach Freud also beim Unheimlichen zum Schaudern bringt, ist die Wiederkehr des ehemals Vertrauten, das wir überwunden oder verdrängt haben (markiert durch die Vorsilbe „un-“).
In Jaques Lacans Relektüre von Freud dagegen ist das ‚Zuhause’ immer schon verloren (objet a), und wird erst nachträglich konstruiert: Nie war das Subjekt zu Hause, und nie kommt es dorthin ‚zurück’. Denn nach Lacan ist das Subjekt gespalten, es hat seine Einheit nicht verloren, sondern entsteht erst im Zuge seiner Spaltung. Es gibt also keinen Bruch, vor dem man noch eins war, mit sich und seiner Umwelt, sehr wohl aber gibt es die Illusion von einem zerstörten Paradies des Nicht-Entfremdetseins, das irgendwo im Vergangenen verortet wird. Freud war noch von einer tatsächlich dagewesenen Einheit ausgegangen: antropologisch in der Urzeit der Menschheit wie auch in der Individualentwicklung, vor dem Durchlaufen des Ödipuskomplex’.
Wenn Lacan sagt, dass das Subjekt per se gespalten ist, dann heißt das, dass wir mit Entfremdung leben, Brüche und die unüberwindbare Andersheit der Welt ertragen müssen. Wer diese Entfremdung akzeptiert, hat die symbolische Ordnung integriert und kann als erwachsener Mensch im Leben stehen. Das Symbolische bringt Struktur und Grenzen, es teilt, unterbricht, hierarchisiert, trianguliert. Im Gegensatz dazu gibt es im dualen Imaginären nur das Ich und sein Spiegelbild, in dem sich das Ich wiederfindet. Hier sind Ganzheit und Identifikation möglich. Alles erscheint sinnvoll.
Eine Rückkehr des Subjekts zu Etappen, die es in seiner Entwicklung bereits überschritten hat, nennt man in der Psychoanalyse Regression. Dies kann sich auf eine zeitliche Entwicklung beziehen, etwa von einem erwachsenen in ein kindliches Stadium. Die Regression kann aber auch in formalen Schienen verlaufen: vom symbolischen zum imaginären Umgang mit der Welt.
Die Generation, an die sich Roches Buch richtet, ist die erste, deren Kindheit von hohen Scheidungszahlen ihrer Eltern betroffen war. Zugleich scheint es in unserer Generation nicht so sehr um Ausbruch, als vielmehr um Rückzug zu gehen, wenn man auf die kulturellen Phantasien blickt, wie sie sich in Filmen, Büchern, Werbung usw. artikulieren. Während 1969 „Easy Rider“ von Freiheit und Exzess erzählte und damit das Lebensgefühl der Sechziger zu fassen schien, erzählt heute Azazel Jacobs’ Film „Momma’s Man“ (2008) von der Regression eines jungen Familienvaters, der bei seinen Eltern zu Besuch ist und dort unerwarteterweise emotional ‚feststeckt’. Er schafft es nicht, diese (räumliche, wie familiäre) Struktur seiner Kindheit erneut zu verlassen und sein Erwachsenenleben wieder aufzunehmen, womit sein Aufenthalt mehr und mehr zu einer Sackgasse wird. Denn nach Hause kommen spendet nicht nur Geborgenheit und Schutz. Hier lauern auch Schmerz, Stillstand und Engegefühle.
Kulturelle Phantasien von Freiheit („Easy Rider“) scheinen dagegen heute mehr und mehr zu verschwinden: Genießt man Ausbrüche doch umso mehr, je gefestigter und starrer die Strukturen sind, die dabei gesprengt werden sollen. Wenn das Zuhause brüchig wird, bröckelt auch der Ort, von dem man sich beherzt abstoßen kann.
Cocooning und Homing-Trends gehen in unserer Generation mit (privater, gesellschaftlicher, finanzieller) Verunsicherung und Zukunftsangst einher. Wir kämpfen heute nicht mehr so sehr dafür, die Häuser unserer Eltern zu sprengen. Vielmehr suchen wir nach möglichen Grundrissen. „Ich habe noch nie vom Aussteigen geträumt“, sagte kürzlich ein Kollege. „Ich träume eigentlich seit ich denken kann vom Einsteigen.“
Die stetig präsente Suche nach einem Platz in der Gesellschaft (und im Leben) erscheint mir als zeittypisches Phänomen meiner Generation. Es ist, als wüssten wir alle nicht mehr so recht, wohin mit uns. Eine gewisse Verlorenheit und Rastlosigkeit führt bei vielen zu einer beständigen Arbeit am eigenen Lebenslauf oder zu diversen Zufluchtsversuchen, um das gefühlte Transit-Leben zu verankern.
Eine verlockende Zufluchtsstätte kann die biografische Vergangenheit, das einstige Zuhause sein: Ein Ort, an dem wir – rückwirkend betrachtet – noch ganz und unfragmentiert zu sein schienen und wussten, welches unser Platz und unsere Rolle im System war.
Wende ich mich zurück in mein einstiges Zuhause, wird die Inkompatibilität von Lebensentwürfen und Lebensabschnitten deutlich. Ich kann und werde nie so leben, wie meine Eltern (bürgerliches Umfeld, Nachkriegsgeneration) es getan haben und auch nicht so, wie ich es mir als Kind oder Jugendliche vorgestellt habe. So gesettled, so daheim. Weil meine Welt (Kunstbetrieb, urbanes Umfeld, berufliche Unsicherheiten, örtliche Ungebundenheit) beweglicher, unsolider und fragmentierter ist, als die Welt, von der mir als Kind erzählt wurde. Es sind wohl diese Lebensumstände, die ich mit vielen Altersgenossen teile, die der andauernden Suche nach einem Platz in Gesellschaft und Welt heute zu Grunde liegen.
Die Fotoserie Home is the place you left 2 zeigt Versuche nach Hause zu kommen. Der Titel verweist auf die Nachträglichkeit dieses Zustands: ‚Zuhause’ und die Suche, die sich darauf richtet, ist es erst dann, wenn wir es verlassen oder verloren haben.
Die inszenierten (performativen) Fotografien schildern Reintegrierungsversuche in mein Elternhaus. Zu sehen sind Techniken, mir die Räume wieder zugänglich zu machen, mich einzuschreiben, zu verkriechen, zu verstecken, zurückzukommen, mich festzuhalten, mimetisch einzupassen oder aber mich zu stemmen an/in/gegen diese Räume. Der Körper wird dabei unterschiedlich vom Raum aufgenommen und mehr oder weniger provisorisch integriert oder abgestoßen.
Der Versuch der Verschmelzung scheitert zwangsläufig, das Andocken misslingt. Der Körper bleibt ein irritierender Überschuss im Raum.
Conny Habbel
1 Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Köln: DuMont 2008, S. 7.
2 Dieser Satz war auch Titel einer vom Künstlerduo Ingar Dragset und Michael Elmgreen initiierten Ausstellung im Trondheim Kunstmuseum, Norwegen (2007).
In Jaques Lacans Relektüre von Freud dagegen ist das ‚Zuhause’ immer schon verloren (objet a), und wird erst nachträglich konstruiert: Nie war das Subjekt zu Hause, und nie kommt es dorthin ‚zurück’. Denn nach Lacan ist das Subjekt gespalten, es hat seine Einheit nicht verloren, sondern entsteht erst im Zuge seiner Spaltung. Es gibt also keinen Bruch, vor dem man noch eins war, mit sich und seiner Umwelt, sehr wohl aber gibt es die Illusion von einem zerstörten Paradies des Nicht-Entfremdetseins, das irgendwo im Vergangenen verortet wird. Freud war noch von einer tatsächlich dagewesenen Einheit ausgegangen: antropologisch in der Urzeit der Menschheit wie auch in der Individualentwicklung, vor dem Durchlaufen des Ödipuskomplex’.
Wenn Lacan sagt, dass das Subjekt per se gespalten ist, dann heißt das, dass wir mit Entfremdung leben, Brüche und die unüberwindbare Andersheit der Welt ertragen müssen. Wer diese Entfremdung akzeptiert, hat die symbolische Ordnung integriert und kann als erwachsener Mensch im Leben stehen. Das Symbolische bringt Struktur und Grenzen, es teilt, unterbricht, hierarchisiert, trianguliert. Im Gegensatz dazu gibt es im dualen Imaginären nur das Ich und sein Spiegelbild, in dem sich das Ich wiederfindet. Hier sind Ganzheit und Identifikation möglich. Alles erscheint sinnvoll.
Eine Rückkehr des Subjekts zu Etappen, die es in seiner Entwicklung bereits überschritten hat, nennt man in der Psychoanalyse Regression. Dies kann sich auf eine zeitliche Entwicklung beziehen, etwa von einem erwachsenen in ein kindliches Stadium. Die Regression kann aber auch in formalen Schienen verlaufen: vom symbolischen zum imaginären Umgang mit der Welt.
„Als Scheidungskind wünsche ich mir wie fast alle Scheidungskinder meine Eltern wieder
zusammen. Wenn sie pflegebedürftig werden, muss ich nur ihre neuen Partner ins Altersheim
stecken, dann pflege ich meine geschiedenen Eltern zu Hause, wo ich sie in ein und dasselbe
Ehebett reinlege, bis sie sterben. Das ist für mich die größte Vorstellung von Glück.“ 1
Wenn Charlotte Roches Ich-Erzählerin Helen von ihrem Wunsch nach der Wiedervereinigung ihrer Eltern spricht, offenbart sich eine solche Regression. Helen formuliert damit den infantilen Wunsch nach Ganzheit, Ungebrochenheit, kurz: nach einer heilen Welt. In diesem regressiven Traum werden die Widerstände der Realität (Trennung der Eltern) nicht anerkannt, sondern verleugnet. Der Bruch soll rückwirkend gekittet werden, bzw: Helen will vor den Bruch zurück. Die Verleugnung der Trennung kommt einer Verleugnung der symbolischen Ordnung (die Trennungen, Brüche und Grenzziehungen mit sich bringt) gleich.zusammen. Wenn sie pflegebedürftig werden, muss ich nur ihre neuen Partner ins Altersheim
stecken, dann pflege ich meine geschiedenen Eltern zu Hause, wo ich sie in ein und dasselbe
Ehebett reinlege, bis sie sterben. Das ist für mich die größte Vorstellung von Glück.“ 1
Die Generation, an die sich Roches Buch richtet, ist die erste, deren Kindheit von hohen Scheidungszahlen ihrer Eltern betroffen war. Zugleich scheint es in unserer Generation nicht so sehr um Ausbruch, als vielmehr um Rückzug zu gehen, wenn man auf die kulturellen Phantasien blickt, wie sie sich in Filmen, Büchern, Werbung usw. artikulieren. Während 1969 „Easy Rider“ von Freiheit und Exzess erzählte und damit das Lebensgefühl der Sechziger zu fassen schien, erzählt heute Azazel Jacobs’ Film „Momma’s Man“ (2008) von der Regression eines jungen Familienvaters, der bei seinen Eltern zu Besuch ist und dort unerwarteterweise emotional ‚feststeckt’. Er schafft es nicht, diese (räumliche, wie familiäre) Struktur seiner Kindheit erneut zu verlassen und sein Erwachsenenleben wieder aufzunehmen, womit sein Aufenthalt mehr und mehr zu einer Sackgasse wird. Denn nach Hause kommen spendet nicht nur Geborgenheit und Schutz. Hier lauern auch Schmerz, Stillstand und Engegefühle.
Kulturelle Phantasien von Freiheit („Easy Rider“) scheinen dagegen heute mehr und mehr zu verschwinden: Genießt man Ausbrüche doch umso mehr, je gefestigter und starrer die Strukturen sind, die dabei gesprengt werden sollen. Wenn das Zuhause brüchig wird, bröckelt auch der Ort, von dem man sich beherzt abstoßen kann.
Cocooning und Homing-Trends gehen in unserer Generation mit (privater, gesellschaftlicher, finanzieller) Verunsicherung und Zukunftsangst einher. Wir kämpfen heute nicht mehr so sehr dafür, die Häuser unserer Eltern zu sprengen. Vielmehr suchen wir nach möglichen Grundrissen. „Ich habe noch nie vom Aussteigen geträumt“, sagte kürzlich ein Kollege. „Ich träume eigentlich seit ich denken kann vom Einsteigen.“
Die stetig präsente Suche nach einem Platz in der Gesellschaft (und im Leben) erscheint mir als zeittypisches Phänomen meiner Generation. Es ist, als wüssten wir alle nicht mehr so recht, wohin mit uns. Eine gewisse Verlorenheit und Rastlosigkeit führt bei vielen zu einer beständigen Arbeit am eigenen Lebenslauf oder zu diversen Zufluchtsversuchen, um das gefühlte Transit-Leben zu verankern.
Eine verlockende Zufluchtsstätte kann die biografische Vergangenheit, das einstige Zuhause sein: Ein Ort, an dem wir – rückwirkend betrachtet – noch ganz und unfragmentiert zu sein schienen und wussten, welches unser Platz und unsere Rolle im System war.
Wende ich mich zurück in mein einstiges Zuhause, wird die Inkompatibilität von Lebensentwürfen und Lebensabschnitten deutlich. Ich kann und werde nie so leben, wie meine Eltern (bürgerliches Umfeld, Nachkriegsgeneration) es getan haben und auch nicht so, wie ich es mir als Kind oder Jugendliche vorgestellt habe. So gesettled, so daheim. Weil meine Welt (Kunstbetrieb, urbanes Umfeld, berufliche Unsicherheiten, örtliche Ungebundenheit) beweglicher, unsolider und fragmentierter ist, als die Welt, von der mir als Kind erzählt wurde. Es sind wohl diese Lebensumstände, die ich mit vielen Altersgenossen teile, die der andauernden Suche nach einem Platz in Gesellschaft und Welt heute zu Grunde liegen.
Die Fotoserie Home is the place you left 2 zeigt Versuche nach Hause zu kommen. Der Titel verweist auf die Nachträglichkeit dieses Zustands: ‚Zuhause’ und die Suche, die sich darauf richtet, ist es erst dann, wenn wir es verlassen oder verloren haben.
Die inszenierten (performativen) Fotografien schildern Reintegrierungsversuche in mein Elternhaus. Zu sehen sind Techniken, mir die Räume wieder zugänglich zu machen, mich einzuschreiben, zu verkriechen, zu verstecken, zurückzukommen, mich festzuhalten, mimetisch einzupassen oder aber mich zu stemmen an/in/gegen diese Räume. Der Körper wird dabei unterschiedlich vom Raum aufgenommen und mehr oder weniger provisorisch integriert oder abgestoßen.
Der Versuch der Verschmelzung scheitert zwangsläufig, das Andocken misslingt. Der Körper bleibt ein irritierender Überschuss im Raum.
Conny Habbel
1 Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Köln: DuMont 2008, S. 7.
2 Dieser Satz war auch Titel einer vom Künstlerduo Ingar Dragset und Michael Elmgreen initiierten Ausstellung im Trondheim Kunstmuseum, Norwegen (2007).